Mittlerweile bin ich ernsthaft erleichtert, wenn ich bei Kunden, Freunden oder Bekannten zumindest ein klein wenig Unordnung entdecken kann. Herumliegendes Spielzeug vom Vortag. Das hingeworfene Sportzeug in der Ecke. Oder die schmutzigen Gummistiefel auf der Terrasse.
Nicht, dass Ihr mich falsch versteht: Ich mag Sauberkeit. Insbesondere bei Champagnergläsern. Generell bei Geschirr und Besteck. Meine Messer halte ich penibel rein. Und im Bett erfreue ich mich außerordentlich über frische Wäsche.
Was ich jedoch, so wie Ihr alle, vermehrt miterleben darf, ist ein Sauberkeits- und Hygienefimmel der bedenklichen Art. Er stimmt mich traurig. Und spornt mich an, etwas Sinnvolles dagegen zu unternehmen. Nur was?
Der gerade verstorbene, renommierte Nobelpreisträger und humorvolle Wirtschaftspsychologe Daniel Kahneman bringt es in seinem lesenswerten Wälzer Schnelles Denken, langsames Denken erschreckend auf den Punkt: "Außerdem veranlasst schon der bloße Gedanke daran, einem Arbeitskollegen in den Rücken zu fallen, Menschen dazu, eher Seife, Desinfektionsmittel oder Spülmittel als Batterien, Saft oder Zuckerstangen zu kaufen. Das Gefühl, sich psychisch beschmutz zu haben, scheint den Wunsch auszulösen, seinen Körper zu reinigen, einen Impuls, der auch >>Lady-Macbeth-Effekt<< genannt wird."
Meiner Wahrnehmung nach >>säubern<< wir nicht nur uns über alle Maßen, sondern auch unser Umfeld. Wir, begradigen, asphaltieren und pflastern. Machen es öde, clean, weiß verputzt, mit antrazitfarbenen Akzenten.
Was ich zuhause, aber auch zu Besuch bei anderen, gerne und häufig mache, ist herrlich erfrischendes Wasser direkt aus dem Hahn zu trinken. Am liebsten einen halben oder sogar ganzen Liter am Stück. So habe ich einen guten Überblick über mein Trinkverhalten, bis vier, acht oder zehn kann ich problemlos über den Tag hinweg im Kopf mitzählen. Das wirklich interessante jedoch ist die regelmäßig wahrnehmbare Schreckreaktion anderer anwesender Personen. Weshalb wohl? Aus Sorge, ich könnte mich vergiften?
Meine Ernährung betreffend ist mir Tim Spector ein großer Mentor. Ein entspannter Typ, der ebenfalls über Humor verfügt, wie ich ihn sehr schätze. Er ist dem Phänomen des Flaschen- vs. Leitungswassers in seinem Buch Die Wahrheit über unser Essen im Kapitel "Das schmutzige Geschäft mit dem Wasser..." wie folgt auf den Grund gegangen: "„Dennoch ist in entwickelten Ländern das Risiko, durch den Genuss von Leitungswasser zu erkranken, geringer als das, durch einen Blitzschlag oder einen Haiangriff zu sterben. (…) … ironischerweise verfügen gerade die Länder, in denen am meisten Flaschenwasser konsumiert wird, über die weltweit sichersten und am besten kontrollierten Trinkwasserversorgungssysteme. (...) Abgefülltes Wasser besitzt keine gesundheitlichen Vorteile; außerdem enthält das Plastik viele potenziell schädliche chemische Substanzen."
Ich erkenne darin einen Hygienewahn nie dagewesener Ordnung. Er erscheint mir überall dort, wo >>Haus<< oder >>Wohn<< davor steht oder drinsteckt, besonders lähmend zu sein. Achtet doch einmal darauf, wenn Ihr wieder einmal auf einem Campingplatz, einer Marina oder einfach bei Freunden zum Essen im Haus (nicht im Garten ;) seid. Ein Großteil der Menschen dort ist mehr damit beschäftigt ihr Hab und Gut zu wienern und zu polieren, als es zu benutzen. Wäre ja auch bescheuert, die sündhaft teure Küche zu häufig schmutzig zu machen! Oder?
Putzen oder Nutzen. Das neue Haben oder Sein. Erich Fromm, der in den Siebzigerjahren mit Haben oder Sein und Die Kunst des Liebens zwei von mir hochgeschätzte Bücher geschrieben hat, würde Augen machen, wenn er feststellen würde, wie sich die problematischen Themen unserer hochentwickelten Zivilisation weiter zugespitzt haben.
Ich mache dabei jedenfalls nicht mit. Die abwertenden Blicke wegen meiner ungewaschenen Fahrzeuge ertrage ich schmerzlich eingetrübt. Klarheit und Behaglichkeit gehen bei mir klar vor Sauberkeit. Ich gewinne dadurch unter anderem unendlich viel Zeit. Zeit, die ansonsten kaum mehr jemand zu haben scheint. Kein Wunder, bei dem ganzen Waschen, Duschen, Fegen und Wischen.
Und jetzt im Frühling. Das zwanghafte Rasenmähen unserer kleinstädtischen Wohlstandsgesellschaft lässt mein Herz bluten. Interessanterweise eine nahezu durchgängig männlich dominierte Angelegenheit. Da kommt es ganz gelegen, dass es in meinem Garten überall heilsam summt, brummt, raschelt und zwitschert. Alle reden (über den Gartenzaun hinweg) von Artensterben und Biodiversität, doch die guten Vorsätze scheinen sich gegen die zementierten Rollenmuster nicht durchsetzen zu können.
"Man kann nicht U-Boote bauen, indem man Jules Verne liest; wir können keine humanistische Gesellschaft schaffen, indem wir die Propheten lesen." Derart schmunzelnd und sarkastisch beschreibt Erich Fromm in Haben oder Sein die Problematik von gewollt aber nicht gekonnt.
Wir können noch Jahrzehnte schreiben und weiterschreiben, lesen und noch mehr lesen, reden, diskutieren, streiten. Es wird nichts verändern. Hat jemand eine Idee, was wir ansonsten machen sollten? Ich jedenfalls, ich bin ratlos.
Ein echter Leuchtturm in meinem Meer der Ratlosigkeit ist Charles Eisenstein. "Nur wenn wir unser inneres Ökosystem in seiner Fülle - unsere ganze Empfindsamkeit und unsere Fähigkeit zu lieben - wiederherstellen, gibt es Hoffnung, auch das äußere Ökosystem wiederherzustellen." schreibt er in seinem Buch Klima. Und weiter: "Heilung auf einer Ebene wirkt sich zügig auf alle anderen Ebenen aus, so wie aber auch jede Form der Auslöschung unsere innere Verödung spiegelt und umgekehrt."
Da habe ich wahnsinnig Lust darauf!
Herzlich
Euer Martin
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